„Aufklärung ist Abwehr“
Wie eine Gesellschaft aus der Geschichte lernen kann
Können wir Wandel überhaupt bewusst gestalten? Können wir uns überhaupt bewusst verändern? Aus Erkenntnis heraus, aus Wissen, aus Erfahrungen? Kann eine Gesellschaft, ein politisches System, eine Demokratie, wie wir sie in Deutschland haben, aus der eigenen Vergangenheit lernen? Oder ist alles ein Automatismus, ein Kreislauf? Fragen, die in den letzten Jahren und vor allem Monaten auch in Deutschland immer häufiger gestellt werden angesichts eines erstarkenden Rechtsradikalismus. Fragen an Harald Sandner. Der gebürtige Coburger hat sich seit über 25 Jahren als Geschichtsforscher und Sachbuchautor in der Öffentlichkeit und Wissenschaft einen Namen gemacht mit vielen Büchern über Coburg und über die Zeit des Nationalsozialismus.
COBURGER: Woher kommt ihre Begeisterung für die düsteren Kapitel der deutschen Geschichte?
Harald Sandner: Die Leidenschaft hat verschiedene Quellen. Damals als Jugendlicher mit 13 Jahren habe ich mir nebenbei ein bisschen Geld verdient, indem ich Altpapier gesammelt und abgeliefert habe. Da bin ich 1973 auf eine Sternserie über den Nationalsozialismus und Hitler gestoßen. Da habe ich dann angefangen, mir die ersten Geschichtsbücher zu besorgen. Außerdem bin ich im Kalten Krieg aufgewachsen, wir hatten in Coburg von drei Seiten die Grenze vor der Haustür. Das heißt, für mich war es normal, dass alle paar Wochen das Panzerbataillon aus Bamberg zur BGS-Kaserne in Coburg fuhr. Man hat sich auch mit US-Wachsoldaten unterhalten, das heißt, das Thema war immer präsent.
Wenn ich aber meine Großmütter gefragt habe, gab es keine Antwort zu früher. Dabei waren und sind wir auf’s Engste mit diesem Teil der deutschen Geschichte verwoben: Meine Vorfahren mütterlicherseits stammen aus dem Sudetenland. Meine Großmutter ist mit meiner Mutter der wilden Vertreibung zum Opfer gefallen, hatte nur zehn Minuten Zeit, die beiden Kinder und das Wichtigste zusammenzupacken. Auch mein Vater, er stammt aus Thüringen, ist geflohen. Aber warum das alles so war, dazu habe ich von meinen Vorfahren keine wirklich sinnvolle Antwort bekommen.
So habe ich dann viel gelesen, auch über meine Heimatstadt, denn Coburg ist eine der geschichtsträchtigsten Städte überhaupt, das hat mich interessiert. Viele Fragen wurden in den Büchern damals allerdings nicht beantwortet: Warum war Coburg in den 1920er Jahren schon eine nationalsozialistische Stadt? Warum gab es hier schon früh Judenverfolgungen?
Warum wurde der letzte Herzog als Opfer dargestellt? Solche und viele weitere Fragen wollte ich beantworten. Meine Antriebsfeder ist das Motto des Holocaustüberlebenden Simon Wiesenthal: Aufklärung ist Abwehr.
COBURGER: Vater und Großvater waren beide im Krieg, freiwillig. Ihre eigene Familie wurde nach dem Krieg vertrieben, sie haben es gerade erzählt. Wie sehr spielt diese persönliche Geschichte eine Rolle bei Ihrer Aufarbeitung der Geschichte?
Harald Sandner: Erheblich, ganz erheblich. Ich sage immer, ich bin der erste Demokrat in meiner Familie. Großväter, -mütter, mein Vater waren alle Nationalsozialisten. Mein Vater hat bis zu seinem Tod vor fünf Jahren oft bedauert, dass er das Ritterkreuz nicht bekommen hat. Mein tschechischer Großvater hat aus Trotz drei Wochen nach Stalingrad extra seinen Familiennamen geändert von Čermák in Sandner. Deswegen heiße ich heute so.
Die Oma, bei der ich aufgewachsen bin, hat stets bedauert, dass wir den Krieg verloren haben, aber sie hat bis zum Lebensende über Hitler als Person nie ein schlechtes Wort verloren, obwohl sie der Vertreibung zum Opfer gefallen ist. Das habe ich im Kopf nicht zusammenbekommen. Ich habe sie auch gefragt, ob sie nicht mitbekommen hat, was 1938 nach dem Anschluss des Sudetenlands an das Deutsche Reich mit den Juden passiert ist. „Die waren eines Tages halt weg“, war die lapidare Antwort. Mein Vater hat 1944 von Holland aus mitgeholfen, V2-Raketen auf Antwerpen zu schießen.
Ich habe ihn gefragt, ob er darüber nachgedacht hat, dass er damit praktisch viele Zivilisten getötet hat. „Es war halt Krieg.“ Punkt. Es ist diese innere Distanz zu den Opfern, diese Teilnahmslosigkeit, die mich erschreckt.
COBURGER: Sie leben in einer Stadt, die in Nazideutschland eine besondere Bedeutung hatte. Die erste deutsche Stadt, die Adolf Hitler die Ehrenbürgerrechte verlieh, die „Erste nationalsozialistische Stadt Deutschlands“ überhaupt, ein Ehrentitel, der 1939 verliehen wurde. Sie haben sich in ihren Büchern vor allem auch mit diesem Teil der Geschichte von Coburg beschäftigt. Weil es ihre Heimatstadt war?
Harald Sandner: Ja natürlich, und vor allem weil Coburg ja deutschlandweit eine absolute Sonderrolle im Dritten Reich hatte. Dass man die erste nationalsozialistische Stadt Deutschlands war, ist ja nur ein Punkt. 1933 wehte die Hakenkreuzfahne auf der Veste. Die Stadt hatte den ersten NSDAP-Bürgermeister bzw. -Oberbürgermeister, die erste NS-Tageszeitung. Coburg hatte Judenverfolgungen schon lange vor 1933 und die Polizei sah weg. Und das ging alles schon viel früher los: Coburg erlebte 1922 das erste größere Auftreten Hitlers außerhalb von München.
Diese Sonderrolle Coburgs liegt auch an Carl Eduard. Coburg war unter Herzog Ernst II. liberal und fortschrittlich. Das kippte aber durch die Verlustempfindung von 1918. Hitler wiederum sprach sich bereits 1926 gegen eine Enteignung der ehemaligen Fürsten aus und hat sich den Hochadel, vor allem die Hohenzollern und die Coburger, auf seinem Weg zu Nutze gemacht. So wurde die Nazi-Ideologie auch zur neuen gedanklichen Heimat des ehemaligen Herzogs. Allein seine Anwesenheit beim Auftritt Hitlers in Coburg reichte aus, um Anfang der 1920er die Mehrheit der nationalkonservativ bürgerlichen Gesellschaft für die neue Partei langsam aber sicher zu begeistern. Alles, was mit Coburg zu tun hatte, wurde fortan persönliche Sache Hitlers.
COBURGER: Dass jemand wie Sie, kein studierter Historiker, sondern aus privatem Interesse getrieben, so tief in diesen Teil der Coburger Geschichte eindringt, sie aufbereitet, früheren Geschichten aufräumt, Täter benennt, hat vielen nicht gefallen. Wie gehen Sie damit um?
Harald Sandner: Es war ja nie meine Absicht, anderen Menschen, Familien oder der Stadt zu schaden, aber man muss die Fakten schon klar ansprechen, wenn man aufklären und daraus lernen möchte, und die Fakten sind entgegen früheren Erzählungen eindeutig: Es gab hier natürlich viele Täter, nicht nur Opfer oder Mitläufer. Da haben sich dann schon Politiker abgewandt, kamen nicht mehr zur Buchvorstellung, kannten mich plötzlich nicht mehr. Ich hatte jedoch den großen Vorteil, dass ich unabhängig bin, weil ich ja einen anderen Brotberuf hatte.
COBURGER: Hat sich das mittlerweile geändert, gewandelt? Spüren Sie eine größere Bereitschaft, sich zu öffnen, zu erinnern, auch und gerade, wenn es wehtut?
Harald Sandner: Früher musste ich monatelang warten, bis ich eine Antwort bekam, wenn überhaupt, aber seit langem erfahre ich durch meine vielen Veröffentlichungen viel Anerkennung in Fachkreisen, den Medien sowie von den Leserinnen und Lesern. Und natürlich gibt es seit vielen Jahren einen Lernprozess in Coburg: Denken Sie an den Georg-Hansen-Weg, ein Widerstandskämpfer. Ich war 2000 der erste, der zu seiner Person und zur NS-Zeit in Coburg allgemein viele neue Fakten veröffentlicht hat. Gottseidank wird nun an ihn erinnert. Es gibt jetzt einen Ilse-Kohn-Platz, es gibt eine Gedenktafel an der ehemaligen sogenannten alten Herberge in der Rosengasse 1, in der ab 1933 Häftlinge misshandelt und gefoltert wurden.
Gute Anfänge sind also da, aber es gibt hier noch Nachholbedarf, das ist ganz klar. Wenn Sie sich Städte anschauen wie Berlin, München und Nürnberg, wo es unzählige Beispiele gibt, kreativ an Geschichte
zu erinnern, und wo eben nicht nur der Opfer gedacht wird, sondern auch der Täter. Tätergedenken heißt ja nicht, dass man sich mit den Taten identifiziert, sondern dass man aufklärt. Wenn Sie nach Österreich fahren, nach Fischlham, wo Hitler lesen und schreiben gelernt hat, da hängt eine Gedenktafel an der Schule und nebendran ist ein Hinweis auf das in der Nähe liegende KZ Mauthausen, damit man den Zusammenhang erkennt. Verschweigen bringt nichts. Verschweigen klärt nicht auf und wenn ich nicht aufkläre, kann ich keine Tendenzen abwehren.
Warum gibt es in Coburg, in so einer geschichtsträchtigen Stadt, immer noch kein Stadtmuseum? Weil man nicht darum herumkäme, auch die Täter zu erwähnen. Coburg hat in seiner Geschichte so viel Positives, das man nicht erzählt in einem Museum, weil man sich vor den Wahrheiten des dunkelsten Kapitels so fürchtet. Gerade wir als erste NS-Stadt haben doch die Verpflichtung zur Aufklärung. Ich freue mich über das neue Buch zum Nationalsozialismus in Coburg, auch wenn ich die Kosten von über 400.000 Euro für viel zu hoch halte. Ich hoffe, das Buch dient nicht nur als Vorwand, man habe die Geschichte jetzt ausreichend aufgearbeitet.
COBURGER: Seit einigen Wochen gehen Menschen in Deutschland, auch in Coburg, in großer Zahl auf die Straße, um gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren. „Nie wieder“ ist das Ziel, also nie wieder Faschismus in Deutschland. Wie groß ist die Gefahr aus Ihrer Sicht aus der Erfahrung der Geschichte heraus?
Harald Sandner: Es gibt meiner Meinung nach keinen direkten Vergleich von heute zur Zeit vor der Machtergreifung 1933, ganz einfach, weil der Motor dazu fehlt. Der war Adolf Hitler, das kann man auch nicht kopieren, auch wenn sich manche Politiker gerade der AFD des Sprachstils bedienen. Dazu kommt, dass viele in der NS-Führung damals, Hitler, Göring, Goebbels, Heydrich, alle intelligent bis sehr intelligent gewesen sind. Das sind die Gefährlichsten.
Aber es gibt auch Parallelen. Wir haben zum einen wie damals eine Demokratie, und Demokratien sind weltweit in der Minderzahl und sind nie in Stein gemeißelt. Die deutsche Bevölkerung wird zunehmend gespalten wie damals auch. Diese Spaltung stärkt die Extremisten, heute vor allem am rechtsradikalen Rand. Die Unzufriedenheit mit der aktuellen Regierung wächst, das spielt den Extremisten wie damals auch in die Hände. Die AFD ist ja nicht so stark, weil sie so gut ist, sondern weil die Regierung so schwach ist. Dann aber nur auf alle AFD-Wähler zu zeigen und zu sagen, ihr seid die Bösen, bringt gar nichts, das grenzt diese Menschen nur aus und macht alles nur noch schlimmer. Ich kann in einer Demokratie, wie wir sie heute in Deutschland haben, doch nicht pauschal gegen Rechts oder Rechte demonstrieren.
Rechte wie Linke gehören zur Mitte der Gesellschaft. Man muss stattdessen eindeutig gegen Rechtsextremisten vorgehen. Sie gefährden unsere Demokratie und diese Leute muss man klar benennen, denn das sind Feinde unserer Gesellschaftsordnung.
COBURGER: Sind die Demonstrationen der Menschen ein Lernprozess, hat sich da auch durch die Erfahrung der Geschichte etwas verändert?
Harald Sandner: Ich find es schon mal sehr gut, dass die Menschen auf die Straße gehen, dass viele Deutsche sich überhaupt dazu aufgerafft haben. Aber wir dürfen nicht vergessen, auch damals gab es Demonstrationen, vor allem in Großstädten, später Straßenschlachten, das waren Zustände, von denen wir heute zum Glück weit entfernt sind und die hoffentlich auch nicht wiederkommen, weil sie wieder Extremisten in die Hände spielen. Demonstrationen alleine reichen also nicht.
COBURGER: Wenn wir also über Veränderung reden, über Lernen aus den Erfahrungen der Vergangenheit, was müsste sich in Ihren Augen ändern?
Harald Sandner: Wie bereits gesagt, die Feinde der Demokratie ausfindig machen und klar benennen und nicht alle in einen Topf werfen. Das zweite ist das Handeln der Bundesregierung, die könnte mit einer anderen Politik, die die Mitte der Gesellschaft, egal ob links oder rechts, im Fokus hat und besserer Kommunikation meiner Meinung nach der AFD ganz schnell den Nährboden entziehen. Außerdem wäre es schön, wenn die deutsche Bevölkerung ein breiteres Geschichtsbewusstsein hätte. Es gibt so viele vorbildliche, interessante und auch spannende Angebote, sich mit Geschichte zu beschäftigen: Mein Verlag, der Berlin Story Verlag, hat in Berlin den ehemaligen Bunker der Deutschen Reichsbahndirektion gemietet und zeigt dort unter dem Titel „Hitler – wie konnte es geschehen?“ die größte Hitlerausstellung, die es weltweit gibt, sowie andere Ausstellungen über 1968 und der Ukraine. Ich habe dort einen extra Raum für mein mehrbändiges Hitler-Itinerar. Die Ausstellung hat jedes Jahr über 300 000 Besucher und die meisten Besucher sind unter 30, sehr viele aus dem Ausland. Der durchschnittliche Aufenthalt liegt bei zweieinhalb Stunden.
Das sind echte Lernprozesse. Da geht man raus und sagt, ok, jetzt habe ich verstanden, wie so etwas damals passieren konnte. Und man wird erkennen können, wenn sich eine Entwicklung heute in diese Richtung bewegt und dass man sich einbringen muss, damit es nicht dazu kommt.
In Coburg muss endlich ein Stadtmuseum über die gesamte Geschichte der Stadt realisiert werden. Über die vielen sehr erfolgreichen und liberalen Zeiten, aber eben auch die sehr düsteren. Da müssen alle Fakten auf den Tisch. Mit einem Buch alleine ist es nicht getan. Man kann nicht genug aufklären, denn Aufklärung ist Abwehr.
COBURGER: Herzlichen Dank.