13 Führerscheine #2

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Text: Tim Birkner | Fotos: Ryoya Terao & Manfred Brösamle-Lambrecht

„Ich möchte wissen, was mit den Leuten passiert ist“

Aus dem P-Seminar „13 Führerscheine – dreizehn jüdische Schicksale“ ist ein preisgekrönter Film geworden. Es sind Freundschaften entstanden. Und viele Fragen und Schicksale sind immer noch offen. „Für Inge Stanton war es so etwas wie Heilung“, sagt Elisabeth Gareis. Beide sind in Lichtenfels geboren – und nach Amerika gegangen; Inge Stanton als junges Mädchen, weil ihre Familie von den Nazis verfolgt wurde, Elisabeth Gareis als Studentin, um in Amerika zu studieren. Heute lehrt und forscht sie in New York über interkulturelle Freundschaften.

Für beide war das Projekt „13 Führerscheine – dreizehn jüdische Schicksale“ ein Schlüsselmoment, den sie nicht vorhersehen konnten. Das P-Seminar am Meranier Gymnasium war 2018 der Beginn einer Geschichte, die bis heute anhält. 13 Führerscheine, die das Bezirksamt 1938 jüdischen Bürgerinnen und Bürgern abgenommen hatte, überdauerten die Jahrzehnte im Keller des Landratsamtes. Landrat Christian Meißner gab den Fund nicht wie vorgeschrieben im Staatsarchiv ab, sondern nebenan im Gymnasium. Studiendirektor Manfred Brösamle-Lambrecht bot daraufhin ein P-Seminar an, von dem niemand wusste, welche Dimensionen es annehmen würde. Was ist aus den Menschen geworden? Eine einfache Frage, die doch so kompliziert ist.

Victoria Thiel war damals mit in dem Seminar: „Als ich damals zum ersten Mal die Nachkommen von Sigmund und Alfred Marx kontaktiert habe, hätte ich niemals gedacht, dass sich daraus solche Freundschaften entwickeln könnten.“ Sie hatte Glück, einer Biografie Alfred Marx nachzugehen, dem es gelungen war zu fliehen. Bei anderen sah das anders aus. „In diesen 13 Schicksalen steckt alles“, sagt Elisabeth Gareis, die mit ihrem Mann Ryoya Terao den preisgekrönten Film über das Projekt drehte. „Familien, denen die Flucht gelang, welche, die es nicht schafften, Familien, die ermordet wurden, Menschen, die sich selbst vergifteten.

Nachfahren, die reden möchten und solche, die lieber schweigen.“ Dieses ganze Spektrum soll in einem längeren Film aufgezeigt werden. „Ich möchte einfach wissen, was mit den Leuten passiert ist“, sagt Brösamle-Lambrecht. Aus seinem Seminar heraus entstand eine Ausstellung, die in der ganzen Welt gezeigt wird. Es folgten weitere Seminare, Stolpersteine, Preise und der Film. Die Schülerinnen und Schüler von damals sind mit ihm noch immer in Kontakt, haben inzwischen ihre Berufsausbildung oder ihr Studium abgeschlossen.

Neue Freundschaften:
Victoria Th iel und
Joshua Tutin

„Mit ‚unbekannt verzogen‛ in einer Akte gebe ich mich nicht zufrieden. Wir sind es diesen Menschen schuldig, dass ihre Geschichte erzählt wird“, sagt er sechs Jahre später. Da ist er mit dem Filmteam unterwegs in Polen – auf Spurensuche. „Fünf der Führerscheinbesitzer wurden mit ihren Familien nach Ostpolen verschleppt“, erzählt er. Die Deportierten kamen mit dem Zug an, mussten bei vier Grad Außentemperatur fast 20 Kilometer in ein Zwischenlager laufen. Wer das überlebte, kam unter schrecklichsten Bedingungen nach Sobibór. Sobibór war ein Vernichtungslager. „Dort ging es durch den Schlauch. Das war ein Weg, der wie ein Viertelkreis geführt wurde, damit man am Anfang nicht sah, wohin es geht“, sagt Brösamle-Lambrecht. Es ging in den Tod. Auf dem Feld der Massengräber liegt heute weißer Marmor-Bruchstein.

„Wir merken, dass wir noch mehr Zeit brauchen, um die Geschichten zu erzählen. Wir wollen den Schicksalen gerecht werden“, sagt Filmemacher Terao. Und so wird der halbstündige Film mit Preis- und Fördergeldern, auch von „Demokratie leben“, zu einem 90-Minüter erweitert. Gareis hat 32 kleine Versteinerungen vom Obermain mitgebracht. Sie legt sie in Sobibór auf dem Marmorfeld nieder, als Erinnerung an die 32 Menschen, die aus der Region Obermain in dem Zug in den Tod saßen – eine Anlehnung an den jüdischen Brauch, Steine als Gruß auf die Gräber zu legen. Einen Kofferaufnäher haben sie bei ihrem Besuch gefilmt, er lag mit vielen anderen zusammen in einem Schubfach des Archivs im nahegelegenen Majdanek. Er gehörte dem 16-jährigen Ernst Liebermann aus Altenkunstadt. Auf dem Bild, das Manfred Brösamle-Lambrecht erst 2019 fand, sieht man mit hoher Wahrscheinlichkeit Ernst Liebermann als kleinen Jungen im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren.

Inge Stanton hat überlebt. „Als sie 2016 Lichtenfels besuchte, war sie noch voller Bitterkeit“, erinnert sich Elisabeth Gareis. „Mit dem Projekt, die Biografien zu erforschen, hat sie Frieden und so etwas wie Heilung erfahren“, beobachtete Gareis. „Wichtig ist, dass es junge Leute waren, die nachgefragt haben. Sie sind frei von Schuld – und doch tragen sie die Vergangenheit auch in sich“, so Gareis. 2019 waren die Nachfahren der Führerscheinbesitzer nach Lichtenfels gekommen. Die Ausstellung wurde eröffnet, die Schülerinnen und Schüler präsentierten ihre erforschten Biografien – und Landrat Christian Meißner gab die originalen Führerscheine an die Familien zurück.

Ausstellung in New York: Zur Eröffnung sind viele der Nachfahren gekommen.

„Diese Erinnerungsarbeit hat das Leben von Inge Stanton grundlegend verändert. Von einer jungen Generation Heilung zu erleben – das ist ein wunderbares Gefühl“, so Gareis. Sie blieb bis zu Stantons Tod in diesem Jahr eng mit ihr verbunden. Victoria Thiel hat zu Inges Großneffen Kontakt. Die beiden wären möglicherweise gemeinsam in die Schule gegangen, wäre die Familie nicht vertrieben worden. „Joshua Tutin, ein Urenkel von Sigmund Marx, besuchte uns letztes Jahr für zwei Wochen, um Lichtenfels kennenzulernen und die deutsche Sprache zu üben.

Inzwischen ist eine richtige Freundschaft entstanden. Auch heuer verbrachte er einige Tage bei uns, da er im Sommer ein Auslandssemester in Deutschland gemacht hat. In den Semesterferien machten wir sogar zusammen Urlaub in Paris, bevor er nach Massachusetts zurückkehrte“, erzählt Thiel.

Über genau solche Freundschaften forscht Elisabeth Gareis. Sie hält sie für enorm wichtig, um andere Kulturen zu verstehen. Wenn sie sich die Bilder und Dokumente aus der Vorkriegszeit ansieht, erkennt sie eine wirtschaftliche Integration. Sie erkennt Menschen, die miteinander in Vereinen wirkten. „Auf Grund von Fotos mit Freunden, überlieferten Briefen und Tagebucheinträgen ist aber zu vermuten, dass es oft zwei verschiedene Netzwerke waren, in denen sie gelebt haben“, so Gareis. „Wieviele wirkliche Freundschaft en gab es? Ich bin mir nicht sicher, ob es viele waren“, sagt sie. Wenn sie auf die von Victoria und Joshua und die der anderen Schülerinnen und Schüler von damals blickt, fühlt sich das gut an: „Es waren viele glückliche Fügungen, die dazu geführt haben. Das geht nur, wenn sich die Menschen in großer Offenheit begegnen.“

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