… und ein „halber“ Coburger
Florian Sitzmann steht mit beiden Beinen im Leben, obwohl er keine mehr hat. Doch gerade aus diesem Schicksal schöpft er seine Kraft.
„Wenn du deine Ziele im Blick hast, wenn du dir selbst vertraust, dann kannst du nicht scheitern.“ Ein solcher Satz ist in den unzähligen Veröffentlichungen der Lebens- und Erfolgsberaterzunft in den verschiedensten Formulierungen omnipräsent. Kommt er aber aus dem Mund von Florian Sitzmann, wird der Satz Wirklichkeit und authentisch. Seit nun einem viertel Jahrhundert sitzt Florian Sitzmann im Rollstuhl. Im Alter von 15 Jahren verlor der gebürtige Frankfurter bei einem Motorradunfall beide Beine. „Ich habe keine Beine – und dennoch stehe ich voll im Leben. ‚Sitzmann‘ ist kein Künstlername, sondern mein Lebens-Programm!“, sagt Flo über „den Sitzmann“.
„Die Zeit und ein ungebrochener Wille halfen mir.“
Coburg ist für Florian Sitzmann eine wichtige Adresse. Der Vater lehrt an der Hochschule, mit Stadtrat und Bauunternehmer Max Beyersdorf verbindet Florian eine lange und intensive Freundschaft. „2005 hatte ich in Darmstadt eine Wohnung gekauft und Max sollte sie barrierefrei umbauen.“ Daraus, und aus der Seelenverwandtschaft mit seinem Freund, entstand eine enge Verbindung. „Coburg“, so Florian Sitzmann in einem Interview, „ist dein Land der guten Schwingungen.“
Der 31. August 1992 ist der Tag, der alles im Leben von Florian Sitzmann verändert. „Ein Schicksalsschlag, gar eine Lebenskrise, sagen die einen. Eine zweite Chance, mein zweiter Geburtstag, sage ich, der halbe Mann. Meine Einstellung und meine Willensstärke erhielten mir immer mein ganzes Herz: Darin schlägt ein starkes Ja zum Leben. Ein Tag, der alles veränderte und der mich zu dem machte, was ich heute bin. Wortwörtlich: Der Sitzmann.“
Am Rasthof Hunsrück-Ost steigen sein Kumpel Stefan und Flo Sitzmann auf ihre Honda, Florian ist Sozius. Es regnet in Strömen, eine Dreiviertelstunde Fahrt haben die beiden noch vor sich. Auf dem Beschleunigungsstreifen trudelt die Honda nach links, dort fährt ein Lkw. Es knallt. Trucker Daniel, auf dem Weg nach Stuttgart, spürt zwei leichte Schläge, sieht im Rückspiegel Funken fliegen, denkt: „Scheiße, jetzt hab’ ich was verloren.“ Er stoppt den Laster, steigt aus, sieht erst den unverletzten Stefan, dann Florian in seinem Blut. Der 40-Tonner ist ihm über die Hüfte gerollt. Der Lkw-Fahrer nimmt Florians Hand und deckt ihn zu. Mehr, denkt er, kann man nicht für ihn tun.
Florian hat keine Schmerzen. „Ich hab’ nur gedacht, die Haxen sind wahrscheinlich ziemlich kaputt. Aber ich hätte nie gedacht, dass sie so kaputt sind, dass man sie absägen muss“, bekennt er in einem Interview. Man schiebt ihn in einen Rettungswagen, dann erst wird es um ihn dunkel. Sein Becken ist gebrochen, er blutet ohne Unterlass. Seine Mutter sieht ihn im Krankenhaus, denkt: Herr, lass’ ihn sterben, wenn es gnädiger ist. Florian übersteht einen Herzstillstand, die Beine sind nicht mehr zu retten. Damals ahnt er nicht, wie es um ihn steht. Aus dem Koma erwacht, bittet er seinen Vater am Krankenbett, seine schweren Beine bequemer zu legen. „Was meinst du, was von Beinen noch übrig ist, wenn ein Laster drübergefahren ist?“, fragt er den Sohn. „Auf einmal war alles still. Alles war auf einmal deutlich und klar. Als würde ein Vorhang weggezogen. Es war mein 16. Geburtstag,“ erinnert er sich. Zwei Jahre liegt Florian im Krankenhaus, 50-mal wird er operiert, weitere zwei Jahre dauern die verschiedenen Rehabilitationsmaßnahmen.
Die Schulausbildung beendet Florian Sitzmann in der Reha, mit 17 Jahren wohnt er allein und selbstständig. Den Führerschein macht er ein Jahr später und eine kaufmännische Lehre. „Aus mir selbst heraus konnte ich das Beste schaffen, das lernte ich jeden Tag. Es dauerte, bis ein 15-jähriger Zwei-Meter-Kerl zu einem wirklichen Sitzmann wurde. Doch die Zeit und ein ungebrochener Wille halfen mir dabei, dem Leben wieder Beine zu machen.“
Acht Jahre nach dem Unfall startet Florian seine Karriere als erfolgreicher Behindertensportler, der Höchstleistungen in seiner Palamarès verzeichnen kann. Die Liste der sportlichen Erfolge beeindruckt: Seit 2002 ist er Handbiker mit mehreren Titeln als deutscher Meister, einer Silbermedaille bei der Weltmeisterschaft in dieser Disziplin und einer Teilnahme bei den Paralympics 2004 in Athen. Als Höhepunkt seiner Karriere als Handbiker sieht er seine Teilnahme an dem Styrkeprøven-Rennen im Jahr 2006. Die Strecke führt von Trondheim nach Oslo. Jedes Jahr nehmen zur Sommersonnwende an der „großen Kraftprobe“ (so die Übersetzung) rund 10.000 Radsportler teil. Das Zeitlimit auf der 540 Kilometer langen Strecke mit insgesamt 3600 Höhenmetern liegt bei 36 Stunden. Wer danach ankommt, wird nicht gewertet. Florian Sitzmann fährt auf seinem Handbike nach 30 Stunden und 30 Minuten über die Ziellinie in der norwegischen Hauptstadt. Bis heute ist dieser Handbike-Rekord ungebrochen. Er nimmt am New York-Marathon teil, Skipisten sehen ihn auf dem Monoski und beim Drachenfliegen sieht er die Welt aus der Vogelperspektive. Reisen führen Florian Sitzmann in viele Länder dieser Welt. Im vergangenen November erhält Florian Sitzmann in Innsbruck von liveaward eine besondere Ehrung für sein Engagement in Sachen Barrierefreiheit.
„Auf einmal war alles still.“
Veröffentlichungen von Flo Sitzmann: „Der halbe Mann, dem Leben Beine machen“ erschien 2009. Eine positive Biografie, die Mut macht. Mut, sich zu trauen, weiter an sich zu glauben und nach vorne zu blicken. 2011 dann das passende Hörbuch. Lesereisen, oftmals mit Musik untermalt. Anfang 2012 dann sein zweites Buch: „Bloß keine halben Sachen – Deutschland ein Rollstuhlmärchen“. Sitzmann sieht sich auch als Vermittler zwischen den Welten. Zwischen „Behinderten“ und „Fußgängern“.
Mehr unter www.dersitzmann.de
von Chris Winter