„Es war einmal“, so fangen Märchen an. Geschichten von Gut und Böse, zu jeder Zeit zeitlos, ortsungebunden, und vor allem – frei erfunden. Eigentlich. Es gibt nämlich Geschichten, die nur wie ein Märchen daherkommen. Wie die Geschichte vom Tunnel unter dem Festungsberg Coburg, der nie wahr wurde, die aber wahr und heute in Vergessenheit geraten ist.
Der Tunnelmann
Wir sind mit Dr. Friedrich Dinkel verabredet. Dinkel ist seit vielen Jahrzehnten Versicherungsmakler in Coburg und – quasi nebenbei – erfolgreicher Unternehmer in anderen Branchen. Große Bilder und einige tierische Trophäen an den Wänden seines Büros in der Rosenauer Straße zeugen von seiner Leidenschaft, dem Wald, der Wildnis, der Jagd. Ein dunkler, großer schwerer Schreibtisch steht im Zentrum des Raumes. Ein fast mystisches Umfeld, ein wenig aus der Zeit gefallen, der richtige Rahmen für die Geschichte, die wir uns von ihm erzählen lassen wollen.
„Es war einmal“ beginnt er also mit einem Lächeln, das man trotz seiner acht Lebensjahrzehnte getrost als spitzbübisch bezeichnen kann. Er tut das aus Kalkül, um der Geschichte eben jenen märchenhaften Anstrich zu geben, und um die durch die vielen seither vergangenen Jahre eventuell in seinem Gedächtnisprotokoll entstandenen Fehler vorab ein wenig zu entschuldigen. „Es ist halt schon so zwanzig bis dreißig Jahre her“, sagt er.
Mit einer Tankstelle ging es los
1969 also kauft der gebürtige Coburger Dr. Friedrich Dinkel ein Gebäude in der Rosenauer Straße 21, direkt an der Einfahrt zur Wiesenstraße. Dort richtet er auch sein Büro ein. Seit 1964 ist Dinkel freier Versicherungsmakler. Die Kunden kaufen bei ihm Sachversicherungen, er kümmert sich um einfache Privatleute, aber auch um Gewerbekunden. Das Geschäft läuft, auch seine Familie entwickelt sich (heute hat Dr. Friedrich Dinkel fünf Kinder).
Die Jahre gehen ins Land, Monat für Monat, Woche für Woche. Doch eines Tages in den 1980er Jahren erfährt Dinkel, dass eine schräg gegenüber an der Rosenauer Straße liegende Tankstelle geschlossen und abgerissen werden soll. Dinkel geht über die Straße und fragt bei den Eigentümern nach. Kurz darauf sitzt man beim Notar. Dinkel kauft das Gelände. Im Hinterkopf denkt er an seine Kinder, „für eines von ihnen wird das Grundstück vielleicht einmal interessant sein.“
Deal mit einem Opernsänger
So ist es einige Zeit später auch, Dinkel möchte auf dem Grundstück der ehemaligen Tankstelle ein Ärztehaus für seine älteste Tochter bauen, die Medizinerin wird. Warum nicht die Familie in Coburg halten, wünscht er sich, stellt aber nach dem Erwerb des Grundstücks fest, dass die Fläche für seine Pläne zu klein ist. „Die war gar nicht so groß, wie ich gedacht habe.“ Was also tun? Dinkel überlegt nicht lange: Er geht zu den Nachbarn in Richtung des einige Meter oberhalb der Rosenauer Straße in Richtung Festungsberg liegenden Hahnwegs und verhandelt mit drei Grundstückseigentümern. Die lassen gerne mit sich reden und verkaufen dem erfolgreichen Versicherungsmakler ihre Grundstücke rund um ihre Häuser.
Mit einem aber handelt Dinkel einen ganz besonderen Deal aus: In dem mittleren der drei Häuser wohnt zu dieser Zeit ein Opernsänger des Landestheaters Coburg. Von ihm möchte Dinkel nicht nur das Grundstück, sondern auch die Untertunnelungsrechte unter dem Haus erwerben, und zwar für 300 Jahre. Dinkel möchte dort für das geplante Ärztehaus eine Tiefgarage bauen. Der Sänger willigt ein, der Notar beurkundet.
Den Hahnfluss gekauft
Die Sache mit der ältesten Tochter aber zerschlägt sich zwar, sie bleibt in Frankfurt, Dinkel aber setzt seine Planungen fort. Parkplätze werden in der Vestestadt zunehmend ein knappes Gut, weiß er. Und so ist auch das Bauamt sehr angetan von seinem privatwirtschaftlichen Engagement. Baudezernent und Oberbürgermeister bieten Dinkel an, dafür auch noch das Flussbett des an seinem Grundstück entlangfließenden Hahnflusses zu kaufen. Im Gegenzug müsse Dinkel dafür den Hahnfluss in diesem Bereich verrohren. „Dann hab ich halt den Hahnfluss gekauft“, schmunzelt er, auch wenn die Verrohrung ganz schön teuer geworden sei. Mittlerweile besitzt Dr. Friedrich Dinkel etwa 3000 Quadratmeter Grund. Und die Untertunnelungsrechte für ein Haus im oberhalb der Rosenauer Straße liegenden Hahnwegs. Und das Flussbett des früheren Hahnflusses.
Ein Bunker für die Bürger
Mit Vertretern der Stadtverwaltung entsteht jetzt ein geradezu abenteuerlicher Plan: Dinkel könne, so das Angebot, gerne seine geplante Tiefgarage bauen. Die Einfahrt wäre auf Höhe der Rosenauer Straße möglich. Und wenn er schon dabei sei, könne er gerne weiterbohren. Zwar habe nämlich jeder Eigentümer laut Gesetzbuch das Recht auf den Erdkörper unterhalb der Oberfläche, die Stadt aber verzichte unter einer Tiefe von zehn Meter gerne auf ihre Eigentumsrechte unterhalb des Hahnwegs. Nicht ohne Hintergedanken: Weil ja die Rosenauer Straße zehn Meter unterhalb des Hahnwegs verlaufe, könne Dinkel gerne den Hahnweg untertunneln und bei der Gelegenheit neben Tiefgaragen gleich einen Atombunker bauen. Die nämlich waren zur Zeit des kalten Krieges gefragt, der Staat hätte fast alle Kosten übernommen.
Die Osttangente
Doch damit nicht genug: Die Stadtplanung wollte aus dem Atombunker gleich eine Umgehungsstraße machen. Die Coburger Osttangente von der Rosenauer Straße in die Wettiner Allee war geboren, einen Kilometer lang. Die Engstellen rund um Schlossplatz, Theaterplatz und Oberen Bürglaß würden der Vergangenheit angehören, die Innenstadt hätte aufatmen können, auch neue unterirdische Parklätze könnten entstehen, so die Vision. 100 Millionen Mark hätte das Loch durch den Festungsberg gekostet. 95% davon hätte der Bundesluftschutz bezahlt, nur fünf Millionen wären zu finanzieren gewesen – für einen eigenen Tunnel, natürlich mit allen Nutzungsrechten für die Stadt und alle Bürger.
Doch „einige Stadträte“ hätten finanzielle Bedenken vorgetragen, schmunzelt er. Daher blieb der Tunnel unter dem Festungsberg eine Vision, die Geschichte selbst aber nicht. Dinkel baute letztlich nur die Tiefgarage mit 112 Parkplätzen und ein Geschäftshaus, beides auf das Gelände der Tankstelle, mit dem alles anfing.
Dann wieder eine Tiefgarage
Die Tunnelrechte hat er bisher noch nicht in Anspruch genommen. Das aber soll sich jetzt ändern: Dinkel möchte gerne wieder bauen, ein neues Geschäftsgebäude gegenüber dem Esco-Park. Auch für dieses benötigt er wieder Parkplätze. Dann wird er wohl in den Festungsberg hineinbohren und eine Tiefgarage bauen. Aber wohl keinen Atomschutzbunker. Und auch keinen Coburger Tunnel.