Die innere Stimme
Ein Gespräch mit Philosophieprofessor Dr. Thomas Kriza
COBURGER: Goethe hat gesagt, das Individuelle könne generell durch das Denken nicht erfasst werden. Stimmen Sie dem zu?
Prof. Dr. Thomas Kriza: Ja und Nein. Natürlich kann das Denken versuchen, das Individuelle einzukreisen. Aber bis zum tiefsten Innersten, bis zum sozusagen Letzten kann das eigene Denken das Individuelle sicher nicht erfassen, da stimme ich Goethe schon zu.
COBURGER: Wie würden Sie Individualität definieren?
Prof. Dr. Thomas Kriza: Individualität sind die Schichten der eigenen Persönlichkeit, die einem ganz selbst gehören im Unterschied zu den Einflüssen von außen. Diese nehmen wir in uns auf, verinnerlichen sie, und tun das eben auf eine sehr individuelle Weise. So entfaltet sich unsere Persönlichkeit. Wir gestalten uns also über die individuelle Aufnahme von Einflüssen von außen. Die Existenzphilosophie versucht diese Spannung so auf den Punkt zu bringen, dass wir alles von außen aufnehmen, aber es eben einen individuellen Kern gibt, der dafür sorgt, dass und wie wir es aufnehmen. Wenn wir uns dagegen von äußeren Einflüssen komplett fremdbestimmen ließen, käme unser eigenes Selbst nicht mehr zu tragen.
COBURGER: Welchen evolutionären Sinn hat Individualität eigentlich für die Entwicklung der Menschheit?
Prof. Dr. Thomas Kriza: Da fällt es mir schwer mit evolutionären Vorteilen zu argumentieren. Natürlich ging die Sicht auf den Menschen als Individuum einher mit der Entfaltung von moderner Wissenschaft und Technik. Durch Wissenschaft und Technik können wir heute die Welt beherrschen wie davor nie in der Geschichte. Insofern könnte man davon sprechen, dass Individualität der Menschheit Vorteile bringt. Aber Wissenschaft und Technik können sich auch in weniger individualistischen Gesellschaften wie z.B. China gut entfalten. Individualität ist also keine Bedingung für evolutionäre Vorteile.
COBURGER: Hat Individualität in Zeiten Coronaerzwungenen Gemeinsinns noch Konjunktur?
Prof. Dr. Thomas Kriza: In der Wahrnehmung aktuell natürlich ein Stück weit weniger. Die Frage nach gesellschaftlicher Solidarität ist stärker in den Mittelpunkt gerückt. Und wir sehen ja, dass gesellschaftlich solidarische Gesellschaften wie viele in Europa besser durch die Pandemie kommen als Staaten wie die USA, in denen diese Solidarität weniger ausgeprägt ist. Das ist aber nur eine Sichtweise. Auf der anderen Seite nämlich hatten viele Menschen in der Zeit der Isolation mehr Zeit über sich und das eigene Leben nachzudenken. Corona kann also auch dazu führen, dass Individualität an Bedeutung zunimmt. Außerdem war es ja auch das Ziel der Isolation, die individuelle Gesundheit jedes Einzelnen zu schützen. Wenn wir Corona mal mit der Pest vergleichen würden, dann sind bei Pest-Pandemien viel mehr Menschen gestorben als heute. Auch deshalb, weil wir heute eine sehr weitreichende Isolation eingeführt haben. Das haben wir gemacht, weil das individuelle Leben heute sehr viel mehr wert ist als früher.
COBURGER: Die Digitalisierung von Geschäftsprozessen erlaubt eine viel zielgerichtetere, schnellere und persönlichere Kundenansprache. Ist das eine Chance für mehr Individualität oder eher eine Gefahr?
Prof. Dr. Thomas Kriza: Also zunächst mal glaube ich, dass die Sicht auf den Menschen als Konsumenten zu unserem Wirtschaftssystem gehört. Da hat sich durch die Digitalisierung nicht sehr viel verändert. Aber heute gibt es natürlich digital maßgeschneiderte Werbemöglichkeiten. Diese sind besser, sind mächtiger geworden. Das bringt auch Gefahren mit sich: Wenn man persönliche Daten preisgibt, lassen sich aus bisweilen banalen Fakten sehr tiefe Einblicke in die Persönlichkeitsstruktur gewinnen, wenn man nur genug Daten hat. Facebook kennt uns möglicherweise besser als unsere Freunde und Ehepartner, dazu reichen schon ein paar hundert Facebook-Likes. Es lassen sich also auf Basis von Daten im Rahmen der Digitalisierung Aussagen über den Charakter und das individuelle Wesen einer Person treffen und daraus Strategien der Beeinflussung ableiten. Individualität hat aber auch viel mit der Möglichkeit der freien Selbstbestimmung zu tun. Wenn ich als Individuum aber permanent subtil beeinflusst werde, ohne es zu merken, spricht das einer freien Entfaltung entgegen. Das ist schon eine große Herausforderung für unsere Individualität.
COBURGER: Ist Individualität in einer digitalisierten Gesellschaft auf dem Rückzug?
Prof. Dr. Thomas Kriza: Nein, das würde ich nicht sagen. Die Individualität entfaltet sich immer in einem Spannungsfeld von äußeren Einflüssen und dem Inneren. Und Einflussnahme gab es schon immer. Das hat sich durch die Digitalisierung grundlegend nicht geändert. Nur die Ausprägungen der Einflussnahmen haben sich durch die Möglichkeiten der Digitalisierung verändert. Da ist jedes Individuum natürlich heute mehr als früher gefordert, kritisch und vorsichtig zu sein und an einem gewissen Punkt auch mal zu sagen: Nein, da mache ich nicht mit.
COBURGER: Auch mal „Nein“ sagen: Sind „wirkliche“ Individualisten nicht eigentlich die wenig Marktgerechten, die Unangepassten, die Nicht-Mainstreamer, die Quertreiber, Unikate, Einzelgänger, Außenseiter, Paradiesvögel, Spinner?
Prof. Dr. Thomas Kriza: Also zu wahrer Individualität gehört es schon, nicht alles mitzumachen, was einem die Gesellschaft als richtig und wichtig vorgibt, sondern immer kritisch zu sein, immer äußere Einflüsse individuell für sich zu bewerten. Das passiert aber im Inneren eines Menschen, das äußert sich nicht notwendigerweise in einem Erscheinungsbild. Das Äußerliche hat wenig zu sagen über den Grad der Individualität eines Menschen. Selbst ein scheinbar „langweiliger“ Mensch kann natürlich in höchstem Maße individuell sein.
COBURGER: Sie haben Wirtschaftsinformatik studiert, haben bei IBM gearbeitet als IT-Spezialist für Digitalisierungsprozesse, sind aber zur Philosophie gewechselt. Sind Sie ein Individualist?
Prof. Dr. Thomas Kriza: In diesem Sinne schon. Bei IBM hätte ich damals viel Geld verdienen können, habe aber dennoch Philosophie studiert, entgegen allen Ratschlägen aus meinem Umfeld in Sachen Sicherheit und materieller Vorteile. Ich habe diesen Schritt nie bereut, ich bin dadurch innerlich gereift , und am Ende hat sich alles gefügt und ich bin jetzt auch als Professor materiell gut abgesichert.
COBURGER: Was würden Sie Menschen empfehlen, die ihre Individualität finden möchten?
Prof. Dr. Thomas Kriza: Ich glaube, dass man empfehlen kann, der inneren Stimme nachzugehen. Man muss das machen, was man wirklich will. Häufig stehen da natürlich äußere Zwänge dagegen, dann muss man sich diesen stellen und mutig sein, und nicht unbedingt den bequemen Weg gegen, sondern den, der den inneren Bedürfnissen entspricht. Also im Zweifel mutig sein und unangepasst, sich nicht so sehr um die Zukunft sorgen, die Rente, den Job, das eigene Auto, das eigene Haus, sondern sich bewusst die Frage stellen: Wie will ich leben?
PROF. DR . THOMAS KRIZA studierte Wirtschaftsinformatik und Philosophie, Soziologie und Psychologie und promovierte 2014 in Philosophie. Parallel arbeitete er bei IBM und gestaltete als IT-Spezialist Digitalisierungsprozesse von Großkunden. Seit 2015 unterrichtete Prof. Dr. Thomas Kriza Philosophie in den interdisziplinären Lehrveranstaltungen des „Coburger Wegs“ an der Hochschule Coburg. Er leitete das Philosophische Café und unterrichtete in Bachelor- und Master-Seminaren verschiedener Studiengänge. Im Januar 2018 erschien sein Buch „Die Frage nach dem Sinn des Lebens. Das zwiegespaltene Verhältnis des modernen Denkens zu den Sinnentwürfen der Vergangenheit“. Im November 2019 wurde er an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg zum nebenberuflichen Professor für „Digitaler Wandel und Ethik“ am Fachbereich für Sozialpolitik und Soziale Sicherung berufen. Und zum September wechselt er an die OTH Regensburg. Dort bekommt er eine Professur für das Lehrgebiet „Digitalisierung, Technologiefolgen und angewandte Ethik“.