… Deutschlands erste Bäckermeisterin
Ob es ihr Traumberuf gewesen ist? Frühmorgens um 3 Uhr aufstehen, Kohlen schleppen, den riesigen Ofen anschüren? Um 4 Uhr mit beiden Gesellen die Teige ansetzen, wiegen, mischen, rühren und das Tagewerk in der Backstube beginnen? Es war einfach nötig und deswegen machte sie es. Und sie machte es besonders gut. Alles hörte auf Marie Müller. Sie war hier in der Ketschengasse 9 schließlich die Bäckermeisterin. Die einzige weit und breit.
von Heidi Schulz-Scheidt
Fotos: Val Thoermer
Im Jahre 1927 kauft e der Bäckermeister Richard Fischer aus Neustadt das Haus in der Ketschengasse von Carl Weidmann. Die Nachfolge schien gesichert, als Tochter Maria 1936 den Konditormeister Karl Müller heiratete. Doch der Ausbruch des 2.Weltkrieges machte alle Hoff nung zunichte. Der Handwerker wurde eingezogen und kam nach Kriegsende nicht mehr zurück. Der Soldat blieb vermisst. In vielen Betrieben fehlten jetzt nach Kriegsende die Männer. Und so tat Marie Müller das, was sie für ihre Zukunft hielt, die Bäckereitradition der Familie fortführen. Wie mögen die Bäckergesellen in den 1950er Jahren wohl geschaut haben, als die zierliche Gesellin aus der Ketschengasse auch noch ihre Meisterprüfung ablegen wollte? Sie bestand die Prüfung mit Bestnoten und erhielt vom Obermeister neben einem Buchgeschenk noch die anerkennende Widmung „Dem ersten weiblichen Gesellen und zugleich dem besten Prüfl ing aus der Gemeinschaft als besondere Anerkennung.“ Respekt! Die Erfolgsstory der Handwerksmeisterin begann bereits früher, denn im Jahre 1945, kurz nach dem Einmarsch, kamen die amerikanischen Soldaten in die Bäckerei und schwärmten von den Müllerschen Brötchen. Also lieferte die Meisterin ihre Backwaren ab sofort in die Offi ziersmesse der US-Streitkräft e. Selbst der Adel war von ihren Produkten überzeugt. Herzogin Viktoria Adelheid kauft e am liebsten Butterhörnchen und auch der bulgarische König zählte zu ihren Stammkunden.
So beschaulich das Leben in der Ketschengasse, in der sich viele kleine Handwerksbetriebe aneinanderreihten, in den fünfziger Jahren auch gewesen sein mochte, die Moderne warf ihre Schatten voraus. Autoschlangen in der schmalen Gasse Richtung Marktplatz? Im Schritttempo fahrende Einheimische, die an den Auslagen der Geschäft e links und rechts vorbeifahren, während blauer Abgasdunst zwischen Fachwerkhäusern und den städtischen Brunnen aufsteigt? Ein Horrorszenario und allenfalls zur Urlaubszeit in süditalienischen Dörfern denkbar. Aber mitten durch Coburg? Unmöglich! Und dennoch war es Realität. Zog sich doch einst die alte Handelsstraße von Erfurt nach Nürnberg, kurz die Fernstraße 4, mitten durch die Ketschengasse. Bemerkenswert. Zum Problem wurde diese Verbindung mit der aufk ommenden Motorisierung der Bevölkerung. Die Einfahrt durch das Ketschentor wurde zur gefährlichen Engstelle. Zudem zeigten sich Risse in der Mauer, teils durch die Bombenangriff e zum Ende des Krieges, teils durch die Militärfahrzeuge der Amerikaner verursacht. Augenzeugen berichteten, dass ein Panzerfahrer sich verschätzte und gegen die Stadtbefestigung stieß, um von Süden nach Coburg zu gelangen. Bauliche Veränderungen waren nötig. Der Flügelbau am Tor wurde verlegt und eine neue Einfahrt geschaff en. Weitere Engstellen im Bereich der alten B4, etwa am Albertsplatz, wurden bereinigt, indem alte Häuser abgerissen wurden. Die Rosengasse und die Ketschengasse wurden zur Einbahnstraße.
Dies alles erlebte Marie Müller noch hautnah mit, denn sie führte ihren Betrieb bis ins Jahr 1982. Dann fi el das Gebäude in einen Dornröschenschlaf. Bis der Enkel Peter Th umeyer von einem Mieter aus dem 2.Stock mit der Idee konfrontiert wurde, dass in dem Handwerksbetrieb der Großmutter wieder etwas besonderes entstehen müsste. Drei Jahre lang wurde das Erdgeschoss in der Ketschengasse 9 saniert. 15 Tonnen Müll schleppte Alexander Mohr gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin heraus aus dem Haus. Böden wurden frei gelegt, Holztüren und Fenster liebevoll saniert, die Porzellanknöpfe der Inneneinrichtung nachgebrannt. Allein die Restaurierung des unter Denkmalschutz stehenden riesigen Ofens im Hinterraum verschlang 2000 Arbeitsstunden. Hier waren Menschen am Werk, die Historisches erhalten wollten. Die mit ihrer Liebe zum Detail Geschichte und Geschichten sichtbar machen wollten. Wer nun die Tür zur ehemaligen Bäckerei Fischer aufmacht, fühlt sich zurück versetzt ins 19.Jahrhundert. Denn hier steht nun eine Original ab- und wieder aufgebaute Jugendstilapotheke aus Unna in Westfalen. Neben Ochsengalle, Terpentinöl und Bienenwachs zur Möbelpfl ege kann man bei „Raritäten Mohr“ auch weitere ganz besondere Dinge kaufen. In Coburg angefertigte Knickerbocker, Duffl ecoats, Muff s und Handschuhe aus Naturwolle. Ledergürtel, von Sattlern aus der Region. Oder herrlich milden Whiskey. Raritäten eben und allesamt in der nahen Umgebung hergestellt. Denn auf Handarbeit legt er großen Wert, der gelernte Chemietechniker Mohr. Das hätte auch Marie Müller gefallen.
Häuser, die mit Unterstützung der Gemeinschaft Stadtbild Coburg e.V. saniert worden sind – der COBURGER stellt sie vor: 2019 in jeder Ausgabe des COBURGER eines in unserer Reihe „Hier wohnte“.